Sexualstrafrecht bundesweit
Was ist Aussagepsychologie?
Der Zeugenbeweis steht im Mittelpunkt der meisten Sexualstrafverfahren.
Insbesondere wenn eine Zeugenaussage das wesentliche oder einzige Beweismittel ist (sog. Aussage-gegen-Aussage-Konstellation), kommt es für die Entscheidung des Gerichts maßgeblich darauf an, ob die belastende Aussage zutreffend ist oder nicht. Dabei werden die Fragen der sog. Glaubhaftigkeit einer Aussage von der Aussagepsychologie wissenschaftlich untersucht.
Aussagepsychologisches Vorgehen
Ausgangspunkt ist stets die Grundannahme, dass sich eine erlebnisbasierte, d.h. wahre Aussage durch bestimmte feststellbare Merkmale von einer nicht erlebnisbasierten und damit falschen Aussage unterscheidet. Zur Feststellung, ob eine erlebnisbasierte Aussage vorliegt, geht die Aussagepsychologie wie folgt vor:
Glaubwürdigkeit vs. Glaubhaftigkeit
Lange Zeit stand die sog. Glaubwürdigkeit eines Zeugen als Persönlichkeitsmerkmal im Fokus. Der Beruf oder das Ansehen eines Zeugen konnten eine entscheidende Rolle dafür spielen, ob das Gericht ihm Glauben schenkte. So stellte der BGH noch in den 1990er Jahren zur Würdigung eines Beweiswerts einer Aussage auf die allgemeine Glaubwürdigkeit einer Person ab.
Dieses Vorgehen ist nach gegenwärtigem wissenschaftlichem Stand nicht mehr haltbar. Sicherlich gibt es Personen, die eher zur Lüge neigen als andere. Hieraus lassen sich aber keine belastbaren Rückschlüsse dazu ziehen, ob auch gerade die im Verfahren relevante Aussage wahr oder erlogen ist.
Deshalb muss Gegenstand der Untersuchung immer die konkrete Aussage sein. Dadurch wird der persönliche Hintergrund des Zeugen jedoch nicht gänzlich irrelevant: So können psychische Auffälligkeiten (z.B. eine Borderline-Persönlichkeitsstörung) eine erhebliche Rolle für die Beweiswürdigung spielen.
Hypothesenbildung
Am Beginn der aussagepsychologischen Würdigung steht eine Hypothesenbildung: Der vom Gericht bestellte aussagepsychologische Sachverständige hat zunächst die der Rechtsprechung des BGH und wissenschaftlichen Standards entsprechende sog. Nullhypothese aufzustellen. Als Nullhypothese wird die Annahme beschrieben, dass die untersuchte Aussage nicht erlebnisbasiert („falsch“) sei.
Diese Hypothese ist dann, anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls, weiter zu spezifizieren. Je nach Einzelfall kann die Nullhypothese danach beispielsweise lauten: „Die Aussage ist nicht erlebnisbasiert, sondern vollständig/teilweise ausgedacht“ oder „Die Aussage ist nicht erlebnisbasiert, sondern wurde durch Suggestion verursacht“.
Von hoher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen ausgedachter Aussage und Suggestion:
Bei einer ausgedachten Aussage weiß der Zeuge, dass er etwas berichtet, was er (so) nicht erlebt hat. Es handelt sich um eine klassische Lüge.
Bei einer Suggestion besteht hingegen die Möglichkeit, dass intensive Befragungen den Zeugen dazu verleitet haben, seinen Bericht den Erwartungen der Befragungspersonen anzupassen oder sogar sog. Scheinerinnerungen zu entwickeln. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Befrager (der auch eine Privatperson aus dem Umfeld des Zeugen sein kann) von vornherein von einem bestimmten Ergebnis ausgeht und dies vom Zeugen lediglich bestätigt haben will. Die Befragung wird dann nicht offen, sondern zielgerichtet geführt. In einem Fall der Suggestion geht der Zeuge (und auch meist der Befrager, der die Suggestion herbeigeführt hat) davon aus, dass seine Aussage der Wahrheit entspricht. Es handelt sich – im Gegensatz zur ausgedachten Aussage – also nicht um eine Lüge, sondern um einen Irrtum.
Die Anwendung der Nullhypothese wahrt, soweit die Aussage eines Belastungszeugen begutachtet wird, die Unschuldsvermutung als grundlegenden strafprozessualen und verfassungsrechtlichen Grundsatz: Danach ist so lange von der Unschuld des Angeklagten auszugehen, bis dessen Schuld jenseits vernünftiger Zweifel bewiesen ist. Zweifelt das Gericht nach Durchführung der Beweisaufnahme an der Schuld des Angeklagten, hat es ihn freizusprechen. Kann die Nullhypothese nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit widerlegt werden, bestehen also weiterhin Zweifel an der Wahrheit der überprüften belastenden Aussage, so muss – wenn nicht andere Beweismittel den Angeklagten überführen – auch an der Schuld des Angeklagten gezweifelt werden.
Realkennzeichenanalyse
Darüber hinaus kann versucht werden, die Nullhypothese durch die Feststellung sog. Realkennzeichen zu widerlegen. Hierunter sind bestimmte Merkmale einer Aussage zu verstehen, die – statistisch betrachtet – bei erlebnisbasierten Aussagen häufiger vorkommen als bei ausgedachten. Die Psychologie hat zahlreiche Realkennzeichen entwickelt, die als empirisch abgesichert gelten. Dazu zählen z.B.:
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Detailreichtum: Ein wichtiges Kennzeichen für die Erlebnisbasiertheit einer Aussage ist deren Detailreichtum. Denn eine Aussage zu erfinden und mit zahlreichen Details auszuschmücken, ist kognitiv eine erheblich schwierigere Aufgabe als das Wiedergeben tatsächlicher Erlebnisse.
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Homogenität der Zeugenaussage: Betrachtet werden kann auch, ob die Schilderung von Details inhaltlich schlüssig und folgerichtig ist oder ob sich Unstimmigkeiten ergeben. Schildert der Zeuge sich logisch ausschließende Details, spricht das gegen die Erlebnisbezogenheit.
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Zugeben von Erinnerungslücken oder Unsicherheiten: Ein lügender Zeuge möchte regelmäßig jeden Eindruck von Unsicherheit vermeiden, um so sicherzugehen, dass ihm geglaubt wird. Das Zugeben von Erinnerungslücken oder Unsicherheiten durch den Zeugen kann daher ein Realkennzeichen sein.
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Entlastende Elemente: Ebenso kann es ein Realkennzeichen darstellen, wenn die eigentlich belastende Aussage Elemente enthält, die den Beschuldigten entlasten. Lügt der Zeuge beispielsweise, um dem Beschuldigten zu schaden, wird er entlastende Elemente tunlichst vermeiden wollen. Man spricht hier vom sog. Belastungseifer.
Die Realkennzeichenanalyse darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass es bestimmte Kennzeichen gäbe, die immer und nur bei wahren Aussagen vorkommen oder dass eine wahre Aussage stets sämtliche Realkennzeichen erfüllen müsse. Eine zuverlässige Bewertung der Aussage kann sich nur aus einer Gesamtschau der vorhandenen bzw. nicht vorhandenen Realkennzeichen ergeben. Hierbei ist in jedem Fall zu berücksichtigen, dass nie mit absoluter Sicherheit festgestellt werden kann, ob eine Aussage erlebnisbasiert ist oder nicht. Ergebnis einer wissenschaftlich fundierten Aussageanalyse ist immer nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage.
Suggestion und Irrtum
Die Realkennzeichenanalyse ist jedoch ein für Fälle der Suggestion ungeeignetes Instrument. Wurde dem Zeugen suggeriert, dass ein bestimmtes Geschehen stattgefunden hat, so glaubt er, dass er das Geschehen tatsächlich so erlebt hat und wird daher auch zahlreiche Realkennzeichen an den Tag legen.
In den Fällen der Suggestion kommt es deshalb entscheidend darauf an, den Entstehungsprozess der Aussage zu untersuchen. Es muss geklärt werden, ob die Aussage unter suggestiven Bedingungen entstanden ist bzw. nachträglich verfälscht wurde.
Als solche suggestiven Bedingungen, die der Befrager bewusst oder unbewusst setzten kann, kommen in Betracht: Bestärkung des Zeugen bei erwünschten Antworten, Mitteilung von Informationen, die bestimmte Schlussfolgerungen nahelegen oder die Vorgabe fiktiver Informationen, um den Zeugen zum Reden zu bringen.
Deutlich häufiger als der Sonderfall der Suggestion kommt der schlichte Irrtum vor. Schlichte Irrtümer können beispielsweise auf Wahrnehmungsfehlern beruhen:
So lässt die Farberkennung des menschlichen Auges bei Dunkelheit erheblich nach. Gibt ein Zeuge z.B. an, er habe den Täter in einem schwarzen Auto davonfahren sehen, ist daher unbedingt die Tageszeit der Beobachtung zu berücksichtigen. Fand die Beobachtung bei Tag statt, ist ein Irrtum nahezu ausgeschlossen. Fand sie jedoch bei Nacht statt, kann das Auto auch dunkelgrau oder dunkelblau gewesen sein.
Andererseits kann sich der Zeuge auch bloß falsch erinnern. Dies kommt insbesondere bei routinemäßig vorgenommenen Handlungen in Betracht. So wird sich ein Arzt mehrere Monate oder Jahre nach einem Beratungsgespräch nicht mehr sicher daran erinnern können, über welche Risiken des Eingriffs er einen ganz bestimmten Patienten aufgeklärt hat. Er wird sich nur daran erinnern, was er normalerweise im Rahmen eines Beratungsgesprächs anspricht.
Bedeutung für das Gericht
Grundsätzlich ist die Glaubhaftigkeitsbewertung die Aufgabe des Gerichts. Der BGH hat jedoch in zahlreichen Entscheidungen Fälle identifiziert, in denen das Gericht sich die Bewertung nicht allein aus eigener Sachkunde zutrauen darf. Dabei handelt es sich insbesondere um Fälle psychologischer oder medizinischer Auffälligkeiten, wie etwa ein Zeuge mit Borderline-Persönlichkeitsstörung oder einer organisch bedingten Intelligenzminderung. Hier muss das Gericht zur Bewertung der vom Zeugen gemachten Aussage einen Sachverständigen bestellen, der dann ein aussagepsychologisches Gutachten erstellt.
Mit der Bestellung des Sachverständigen wird das Gericht jedoch nicht gänzlich von der Aufgabe befreit, die Aussage zu bewerten. Die abschließende Würdigung des Zeugenbeweises bleibt die Aufgabe des Gerichts und nicht des Sachverständigen. Außerdem ist das erkennende Gericht dazu verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass der Sachverständige die Mindeststandards für die Erstellung aussagepsychologischer Gutachten einhält.