Sexualstrafrecht bundesweit
Was ist Autosuggestion bzw. Autosuggestion?
Dass eine Aussage unwahr ist, kann verschiedene Ursachen haben:
So kann eine Aussage bewusst unwahr sein, wenn die Aussageperson lügt. Die Aussage kann aber auch dann unwahr sein, wenn sich die Aussageperson irrt oder sie von der Richtigkeit ihrer Aussage subjektiv überzeugt ist, obwohl sich der Sachverhalt überhaupt nicht in der beschriebenen Form zugetragen hat.
Fremd-Suggestion
Solche sog. Schein- oder Pseudoerinnerungen können durch suggestive Prozesse entstehen. Entweder wird von außen auf die Aussageperson eingewirkt. In Betracht kommen (nicht zwingend absichtliche) suggestive Befragungen durch Dritte – etwa durch Polizeibeamte oder auch Freunde und Bekannte der Aussageperson. In diesem Fällen spricht man von der sog. Fremdsuggestion.
Auto-Suggestion
Schein- oder Pseudoerinnerungen können aber ebenso von der Aussageperson selbst generiert werden. Dann handelt es sich um sog. Autosuggestion.
Autosuggestive Scheinerinnerungen werden häufig durch therapeutische Interventionen in einer Krisenphase oder auch durch Hypnose ausgelöst. So kann ein Psychotherapeut im Rahmen einer Therapie der Aussageperson nahelegen, dass deren vorhandene psychische Störung die Folge früherer Erlebnisse von sexuellem Missbrauch sei. Diese „Diagnose“ motiviert die Aussageperson häufig dazu, irgendwelche Erinnerungen in ihrem Gedächtnis zu finden, die die gestellte „Diagnose“ bestätigen. Die Aussageperson ist dann von der Erlebnisbezogenheit dieser Scheinerinnerungen vollumfänglich überzeugt, um sich die eigenen psychischen Probleme erklären und sodann heilen zu können. In Wahrheit haben die „erinnerten“ Geschehnisse jedoch nie stattgefunden; sie sind sog. „false memories“.
Im Vergleich zur Fremdsuggestion ist der Prozess der Autosuggestion bisher weniger intensiv wissenschaftlich untersucht. Insofern besteht hier in besonderem Maße die Gefahr, dass Autosuggestionen im Rahmen der aussagepsychologischen Begutachtung nicht erkannt bzw. falsch beurteilt werden.
Suggestion bei Kindern
Insbesondere Kinder sind für Suggestion und sich daraus ergebende Scheinerinnerungen sehr anfällig. Wenn Kindern im Rahmen einer Vernehmung oder einer vernehmungsähnlichen Situation beispielsweise wiederholt eine Frage gestellt wird, neigen diese dazu, ihre zuerst gegebene Antwort zu verwerfen und eine völlig andere neue Antwort zu geben.
Wissenschaftlich wird dieses Phänomen unter anderem damit erklärt, dass Befragungen von der befragten Person nicht als bloße Rekonstruktion von Erlebtem verstanden werden. Die befragte Person wendet vielmehr die üblichen erlernten Konversationsregeln auch in der Vernehmung an. Im Rahmen einer alltäglichen Konversation bedeutet das Wiederholen einer Frage jedoch meist, dass die zuvor gegebene Antwort ungenügend war. Dann korrigiert sich die befragte Person und gibt eine neue völlig andere Antwort ab. Dieses Verhalten verstärkt sich sogar noch, wenn die Wiederholung der Frage mit der konkreten Rückmeldung verbunden ist, dass die erste Antwort unzulänglich war.
Wormser Prozesse: ein Beispiel für Suggestion
Ein eindrucksvolles Beispiel für Suggestion bei Kindern bilden die Wormser Prozesse:
Hartnäckig hielt sich bis in die 1990er Jahre die Überzeugung, dass traumatische Erlebnisse von Betroffenen derart verdrängt würden, dass sie sich später nicht mehr an sie erinnern können. Das sollte insbesondere bei sexuellem Missbrauch im Kindesalter der Fall sein. Man ging davon aus, dass diese verlorenen Erinnerungen mittels sog. Aufdeckungsarbeit wieder zutage gefördert werden könnten. Jedoch erfolgte diese Aufdeckungsarbeit regelmäßig ideologisch ausgerichtet und ging auch dann von einem Vorliegen eines Missbrauchs aus, wenn keine Beweise dafür ersichtlich sind und das Kind selbst einen Missbrauch verneint.
Im Rahmen der Wormser Missbrauchsprozesse waren vor dem Landgericht Mainz von 1994 bis 1997 insgesamt 25 Personen angeklagt, denen mehrfacher Missbrauch und der Betrieb eines Kinderpornorings vorgeworfen wurde. Eine Mitarbeiterin des Opferschutzvereins Verein Wildwasser Worms e.V. hatte mit den Kindern hochsuggestive Aufdeckungsarbeit durchgeführt und sie im Zuge dessen aufgefordert, mit anatomisch korrekten Puppen sexuelle Handlungen nachzuspielen. Dabei wuchs der Erwartungsdruck auf die Kinder so stark, dass sie gegenüber der Mitarbeiterin schließlich Missbrauchshandlungen angaben, die tatsächlich nie stattgefunden hatten.
Obwohl einige Kinder innerhalb anderer Befragungen erklärten, diese Aussagen vollständig erfunden zu haben, erhob die Staatsanwaltschaft Anklage. Einige Angeklagte befanden sich in der Folge über Jahre in Untersuchungshaft.
Obwohl alle Angeklagten – nach der Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens – freigesprochen wurden und der behauptete Missbrauch in Wahrheit nie stattgefunden hatte, hatte der Prozess für die Beschuldigten und die Kinder gravierende Folgen. Es zerbrachen die Ehen vieler Beschuldigter; eine Angeklagte verstarb während der Untersuchungshaft im Gefängnis. Einige der Kinder, die man in der Absicht sie zu schützen, aus ihren Familien genommen hatte, wurden letztlich in der richterlich angeordneten Fremdunterbringung im Kinderheim tatsächlich missbraucht.
Die Wormser Prozesse zählen damit zu den größten Justizskandalen der Bundesrepublik. Nicht zuletzt vor ihrem Hintergrund ist erhebliche Sensibilität gefordert, wenn bei einem mutmaßlichen Opfer derartige Aufdeckungsarbeit stattgefunden hat. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die entsprechende Aussage zumindest teilweise suggestionsbedingt zustande gekommen und damit nicht erlebnisbezogen ist.